Heute vor 75 Jahren, am 15. April 1945, erreichen britische Truppen das völlig überfüllte Konzentrationslager Bergen-Belsen bei Celle. Rund 120.000 Menschen wurden unter der NS-Herrschaft zwischen 1943 und 1945 in das Lager am Südrand der Lüneburger Heide deportiert, mehr als 52.000 KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene kamen dort ums Leben. Die britischen Soldaten stoßen bei ihrer Ankunft auf Berge von Tausenden übereinander gestapelten Toten. Schon vor 1943 litten im vormaligen Gefangenenlager Bergen-Belsen zehntausende Menschen unschuldig unter dem NS-Terror.
Bilder aus Bergen-Belsen schockierten die Welt
Der Name Bergen-Belsen soll in der britischen Holocaust-Wahrnehmung für lange Zeit weit vor Auschwitz rangieren. Denn das Konzentrationslager in Niedersachsen ist das einzige, das von britischen Truppen befreit wurde. Und es ist eines der wenigen, das die SS nicht zuvor geräumt hatte. Was das Grauen von Bergen-Belsen noch heute so gegenwärtig macht, sind die Bilder und Tondokumente aus dem völlig überfüllten und verwahrlosten Lager, die britische Fotografen und Kamerateams nach der Befreiung eingefangen haben. Bilder von ausgemergelten Menschen in zerlumpter Häftlingskleidung, von lebenden Skeletten mit leerem Blick und von Leichen, nackt im Staub liegend oder zu Halden aufgestapelt – Bilder, die die Weltöffentlichkeit schockieren.
Und Bilder, die so grausam sind, dass sie der britsiche Fernsehsender BBC erst nicht glauben konnte: Richard Dimbleby berichtet während des Zweiten Weltkriegs für die BBC von der Front. Mit seinen „War Reports“ hatte er den Radiohörern daheim das Geschehen an Schauplätzen wie Afrika, der Normandie oder von Bord der Kampfbombern der Royal Air Force nahe gebracht. Am 17. April 1945 begleitet er britische Soldaten in ein Konzentrationslager, das sie zwei Tage zuvor befreit haben: Bergen-Belsen. Für die Sendeleitung klingen die Beschreibungen zu unglaublich, schlichtweg unglaubwürdig. Erst mit 24 Stunden Verzögerung – Dimbleby hat inzwischen seine Kündigung angedroht – läuft der Report. Jenseits des Ärmelkanals wird er zu einem der berühmtesten in der Rundfunkgeschichte. Der letzte Satz bleibt haften im Ohr: „Dieser Tag in Belsen“, so Dimbleby, „war der schrecklichste in meinem Leben.“
Befreiung des Konzentrationslagers durch britische Truppen
Am Nachmittag des 15. April 1945 erreichen britische Streitkräfte des 63. Panzerabwehrregiments unter Oberst Taylor das Konzentrationslager in der Südheide. Vorausgegangen war ein lokales Waffenstillstandsabkommen, eingefädelt auf Anordnung des Reichsführers SS Heinrich Himmler, ein bis dato einmaliges Ereignis im Kriegsverlauf. Eine Zone von 48 Quadratkilometern rund um das KZ wurde neutralisiert und die SS zog vereinbarungsgemäß drei Viertel des Personals ab. Rund 250 Wachleute machten sich unbehelligt aus dem Staub, nur etwa 50 Mann aus der Verwaltung und 30 Aufseherinnen blieben zurück, darunter der Lagerkommandant SS-Hauptsturmführer Josef Kramer. Sein vormaliger Wirkungsbereich war Auschwitz-Birkenau gewesen. Deutsche Infanterie und ein ungarisches Regiment ersetzten – mit weißen Armbinden versehen – die SS-Wachmannschaften. Laut dem Abkommen sollten diese Soldaten nach der Übergabe frei zu den deutschen Linien abziehen.
Unklar bleibt, was Himmler zum Befehl der kampflosen Übergabe bewogen hatte. Doch eine maßgebliche Rolle spielte offenbar die Seuchengefahr. Unter den entkräfteten Lagerinsassen grassieren Ruhr, Bauchtyphus und Tuberkulose. Vor allem wütet seit rund zwei Monaten eine Fleckfieberepidemie, die täglich mehr Opfer fordert. Dadurch ist offenbar weder an eine Verteidigung noch an eine Räumung des Lagers zu denken.
Befreite KZ-Insass*innen zu schwach zum jubeln
Als Captain Derrick Sington, Führer einer britischen Propaganda-Einheit, per Lautsprecherwagen im Lager dessen Übernahme durch die Engländer verkündet, ist er zunächst auf Jubel eingestellt. Doch die Insass*innen des Konzentrationslager können ihre Freude kaum ausdrücken – zu schwach sind sie dafür. Der größte Teil der am Leben gebliebenen Häftlinge“, so erinnerte sich einst die Gefangene Lola Fischel, „hat die lang ersehnte Befreiung nicht vernommen.“ Viele sind vor Hunger apathisch oder vom täglichen Grauen abgestumpft. „Wir hatten so lange von Dreck und Tod umgeben gelebt, dass wir es kaum noch merkten“, erläuterte auch Anita Lasker-Wallfisch, die einige Monate vor Kriegsende von Auschwitz nach Bergen-Belsen kam. Erst wenige Tage vor dem Eintreffen der Briten hatte sie mit ihrer Schwester auf Kommando der SS Verstorbene quer durchs Lager in ein Massengrab zerren müssen.
Das große Sterben in Belsen beginnt im Januar 1945 mit etwa 1.000 Tote, im Februar bereits 7.000, im März dann weitere 18.000. Das kleine Krematorium reicht längst nicht mehr aus, um alle Leichen zu verbrennen. Was Bergen-Belsen in den letzten Kriegsmonaten zum Inferno macht, war die völlige Überbelegung – gepaart mit dem Zusammenbruch beziehungsweise der gewollten Vernachlässigung der Versorgungssysteme. 1943 als jüngstes KZ im Reich auf dem Gelände eines ehemaligen Kriegsgefangenenlagers errichtet, ist Bergen-Belsen zunächst als „Aufenthaltslager“ für etwa 10.000 Juden gedacht, die Himmler gegen im Ausland gefangene Deutsche eintauschen will. Dieser Plan geht allerdings nicht auf – lediglich 357 Juden kommen durch einen Austausch frei.
Auch Anne Frank starb in Bergen-Belsen
Die Situation im Lager verschlimmerte sich ab August 1944, als Belsen um ein Zeltlager für weibliche Häftlinge erweitert wird, die aus Auschwitz-Birkenau deportiert werden. Unter ihnen ist auch Anne Frank, die nach ihrem Tode durch ihre Tagebücher weltweit bekannt wird. Ab Januar 1945 fungiert Bergen-Belsen als Auffanglager für die Evakuierung der frontnahen Konzentrationslager, es wird zum Ziel von Todesmärschen, beinahe täglich muss es weitere Transporte aufnehmen. Am Tag der Befreiung drängen sich 60.000 Häftlinge in den Zelten und Baracken.
Die sanitären Zustände im Lager sind zu diesem Zeitpunkt bereits katastrophal. Zusätzliche Waschräume und Latrinen für die wachsende Häftlingszahl hat die Lagerleitung nicht geschaffen, die vorhandenen funktionieren teils nicht mehr. In einem abgetrennten Lagerbereich mit fast 10.000 Insassen gibt es weder ein WC noch einen einzigen Wasserhahn. Viele Häftlinge, die mehrere Konzentrationslager durchleiden mussten und am Ende nach Bergen-Belsen kamen, nannten es rückblickend übereinstimmend „das schmutzigste aller Lager“. Die ab Ende 1944 schadhafte Entlausungsstation wird nicht mehr repariert und eingeschlepptes Ungeziefer breitet sich explosionsartig aus. Mit den Läusen kommt auch das Fleckfieber. Die meisten Opfer im Lager gehen auf das Konto dieser Seuche, die unbehandelt bei geschwächten Personen häufig zum Tod führt. Auch nach der Befreiung durch die britische Armee sterben noch tausende ehemalige Häftlinge an den Folgen ihrer Inhaftierung.
Bergen-Belsen-Prozess in Lüneburg wird erster NS-Kriegsverbrecherprozess und in Bergen-Belsen entsteht die erste KZ-Gedenkstätte
Fünf Monate nach der Befreiung beginnt unter weltweiter Anteilnahme der erste Kriegsverbrecherprozess der Siegermächte. 33 SS-Angehörige und elf Kapos – Häftlinge mit Aufsichtsfunktion – müssen sich vom 17. September an vor einem britischen Militärgericht verantworten. Hundert Journalisten reisten ins niedersächsische Lüneburg, um von der Verhandlung zu berichten. Ein „Lehrstück richtiger Justiz“, befand rückblickend Axel Eggebrecht, einer der drei akkreditierten deutschen Presseleute. Der sogenannte Belsen-Prozess endet mit elf Todesurteilen. Am 10. Dezember 1945 werden unter anderem Lagerkommandant Josef Kramer, verrufen als „die Bestie von Belsen“, sowie die berüchtigte Lageraufseherin Irma Grese in Hameln gehenkt.
Auf dem Gelände des KZ in der Lüneburger Heide erinnert seit 1952 eine Gedenkstätte an die Leiden der Häftlinge – es ist die erste, die an einem Konzentrationslager entsteht und im Lauf der Jahrzehnte immer weiter ausgebaut wird. Zu den Überlebenden, die eigentlich nach Bergen-Belsen gekommen wären, gehört auch Anita Lasker-Wallfisch. „Nur wer damals hier in Belsen war, kann wirklich wissen, wovon wir Überlebenden reden, nichts als Leichen, Leichen, Leichen“, schreibt die 94-Jährige in ihrem Redemanuskript zur verschobenen Gedenkfeier. „Ich werde oft gefragt, ob es in Belsen besser war als in Auschwitz. Belsen war ganz einfach anders, Belsen war einzigartig, es war kein Vernichtungslager, hier gab es keine Gaskammern, in Belsen ist man ganz einfach krepiert.“
Jan Bühlbecker: Die Erinnerung ist der beste Schutz vor der Wiederholung
Für die SPD in Wattenscheid-Mitte und Westenfeld äußert sich Jan Bühlbecker zum heutigen Gedenktag: „Das ungerechte und unmenschliche Leid, das Deutsche mit der Shoa über die Welt gebracht haben, ist singulär und darf niemals vergessen. Vor allem aber dürfen Faschismus, Antisemitismus und Verfolgung niemals wieder sein! Und die Erinnerung an diese grausamen Taten aber vor allem auch die Erinnerung an die Menschen, die in der Shoa ermordet wurden, ist der beste Schutz vor einer Wiederholung. Wir alle sind zum Erinnern und zum antifaschistischen Engagement verpflichtet. Und auch wenn wir gerade furchtbare Rückentwicklungen erleben, denen wir noch entschiedener entgegen treten müssen, bin ich davon überzeugt, dass dieser Kampf gelingen kann. Ich will daher zum Abschluss Anne Frank zitieren: ‚Es ist ein Wunder, dass ich nicht alle Erwartungen aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unausführbar. Trotzdem halte ich an ihnen fest, trotz allem, weil ich noch immer an das Gute im Menschen glaube.'“