Zusammenarbeit von SPD und Kommunisten
Die Freien Gewerkschaften stellen den radikalen Rätekonzepten auf ihrer Vorständekonferenz vom 25. April 1919 – nach langer Debatte – einen eigenen Plan für die Arbeiterräte entgegen, der wohl auch als Kompromissangebot gedacht ist. In Paragraf neun der „Richtlinien für die künftige Wirksamkeit der Gewerkschaften” heißt es dazu: Durch Urwahlen sollten in den Gemeinden nach Berufen gegliederte Arbeiterräte gebildet werden, denen sowohl sozial- und wirtschaftspolitische als auch kommunalpolitische Aufgaben der Gewerkschaftskartelle zu übertragen seien.
Nach Paragraf zehn sollen die Arbeiterräte auf Bezirks- und dann Reichsebene zusammen mit Vertretungen der Arbeitgeber Wirtschaftskammern bilden, die Gesetzesvorhaben anregen und begutachten sowie bei der Sozialisierung mitzuwirken. Wo der Schwerpunkt der gewerkschaftlichen Vorstellungen liegt, zeigt die Tatsache, dass diese „Richtlinien” von sehr ausführlichen „Bestimmungen über die Aufgaben der Betriebsräte” ergänzt wurde.
Der Weg zum Gesetz wird vorgezeichnet
Beide Programmerklärungen liegen dem ersten Kongress der Freien Gewerkschaften nach dem Krieg vor, der vom 30. Juni bis 5. Juli 1919 in Nürnberg stattfindet. Die innergewerkschaftliche Opposition bringt einen eigenen Räteentwurf ein, der von Richard Müller erläutert wird: Ohne Gewerkschaften auch nur zu erwähnen, wird das Modell einer regional und fachlich durchgegliederten Räteorganisation entwickelt, an deren Spitze Zentralrat und Reichswirtschaftsrat stehen sollen. Aber die von Theodor Leipart und Adolf Cohen gemäß den Beschlüssen der Vorständekonferenz vom 25. April vertretene Linie setzt sich mit 407 gegen 192 Stimmen durch. Damit ist der Weg zum Betriebsrätegesetz vorgezeichnet.
Das nach heftigen Auseinandersetzungen gegen die Stimmen der USPD und der rechts-bürgerlichen Abgeordneten angenommene Betriebsrätegesetz vom 4. Februar 1920 sieht – in Fortschreibung der Arbeiterausschuss-Bestimmungen der Kaiserzeit – vor, in Betrieben ab fünf Beschäftigten eine Vertrauensperson und ab 20 Beschäftigten einen aus mehreren Personen bestehenden Betriebsrat zu wählen. Paragraf eins bürdet diesem Betriebsrat jedoch eine Doppelaufgabe auf: Einerseits soll er die „Wahrnehmung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer (Arbeiter und Angestellten) dem Arbeitgeber gegenüber” leisten, andererseits der „Unterstützung des Arbeitgebers in der Erfüllung der Betriebszwecke” dienen.
Zwar wird dem Betriebsrat das Recht auf die Einsicht in die Rechnungsbücher zugestanden, doch die in Paragraf eins geforderte doppelte Loyalität hindert den Betriebsrat daran, sich zu einer eindeutigen Interessenvertretung der Arbeitnehmerseite zu entwickeln. Die Mitspracherechte werden im Vergleich zu früheren Regelungen vor allem auf sozialem Gebiet und bei Entlassungen deutlich ausgebaut.
Durchgesetzt gegen erheblichen Widerstand
Während Christliche Gewerkschaften und Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine das Gesetz begrüßen, erheben sich in den Freien Gewerkschaften, vor allem im Deutschen Metallarbeiter-Verband (DMV), kritische Stimmen gegen das Betriebsrätegesetz. Letzteres ist angesichts der parteipolitischen Präferenzen der Führung des Metallarbeiter-Verbandes nicht verwunderlich. Diese werden auch darin deutlich, dass mit Toni Sender ab 1920 eine Anhängerin der USPD, die 1922 – nach der Spaltung der USPD – zur SPD überwechselt, die Redaktion der „Betriebsräte-Zeitung” des DMV leitet.
Heftig kritisiert wird das Gesetz von weiten Kreisen der organisierten Arbeitgeber. Sie sehen darin eine Beeinträchtigung des freien Unternehmertums und befürchten – wegen der Beteiligung der Gewerkschaften – die Einmischung „betriebsfremder Elemente“. Obgleich in der Praxis in der Folgezeit zahlreiche Betriebsräte gebildet werden, halten vor allem die Unternehmer der Schwerindustrie an ihren Vorbehalten gegen die Mitsprachebestimmungen des Betriebsrätegesetzes fest. Sie verschärfen ihre Ablehnung gegen Ende der 1920er Jahre in der Debatte um die Wirtschaftsdemokratie-Forderung der Freien Gewerkschaften.
Von den Nazis eingeschränkt
In Kraft blieb das Betriebsrätegesetz bis 1934, als die Nationalsozialisten statt Mitbestimmung das Führerprinzip in den Betrieben durchsetzen. „Auch daran sollten wir heute denken“, mahnt für die SPD in Wattenscheid-Mitte und Westenfeld Jan Bühlbecker: „Rechten geht es nicht um mehr Teilhabe oder Gestaltungsmöglichkeiten – sie stehen für das komplette Gegenteil: Unterdrückung und Ausbeutung.“
Mit dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 wurden Betriebsräte in der Bundesrepublik wieder gesetzlich verankert. Bis heute gilt: In Firmen mit mindestens fünf Arbeitnehmern kann ein Betriebsrat gewählt werden.
Herausforderungen für die Mitbestimmung heute
Doch das ist nur in einer Minderheit der Unternehmen der Fall – und der Anteil der Firmen mit Betriebsrat sinkt. „Die betriebliche Mitbestimmung befindet sich seit geraumer Zeit auf dem Rückzug“, heißt es in einer Analyse für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus dem Jahr 2018.
Nach den jüngsten Zahlen arbeiten in Westdeutschland nur noch 42 Prozent der Beschäftigten in einer Firma mit Betriebsrat, im Osten sind es 35 Prozent. Das sind zwar etwas mehr als ein Jahr zuvor, aber Mitte der 1990er Jahre wurden in den alten Ländern noch 51 Prozent der Beschäftigten von einem Betriebsrat vertreten, in Ostdeutschland waren es damals 43 Prozent. Besonders stark ist der Rückgang in mittelgroßen Betrieben mit 51 bis 500 Beschäftigten.
Blickt man auf Gesamtzahl die Unternehmen, große wie kleine, haben aktuell überhaupt nur 9 bis 10 Prozent von ihnen einen Betriebsrat. Vor allem in Kleinbetrieben gibt es ganz selten einen Betriebsrat. Das liege aber nicht an fehlendem Interesse der Beschäftigten, sagt Norbert Kluge, Direktor des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung: „Der Rückhalt von Betriebsräten bei den Beschäftigten schwindet nicht. Ganz im Gegenteil.“ Bei den Betriebsratswahlen gebe es eine konstant hohe Beteiligung von etwa 75 Prozent. Das ist weit höher als bei fast allen politischen Wahlen in Deutschland.
Und davon profitieren beide Seiten: Bei einer Unternehmensbefragung im Jahr 2018 wurde so festgestellt, dass es bei betrieblichen Entscheidungen in 95 Prozent der Fälle eine einvernehmliche Lösung zwischen Firmenleitung und Betriebsräten gibt.
Mitbestimmung muss gesichert werden
Die Bundesregierung hat sich Korrekturen vorgenommen. Im Koalitionsvertrag haben sich Union und SPD verständigt, Gründung und Wahl von Betriebsräten zu erleichtern. So soll für alle Betriebe mit bis zu 100 wahlberechtigten Arbeitnehmern ein vereinfachtes Wahlverfahren verpflichtend gemacht werden. Einen Gesetzentwurf will Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) dieses Jahr vorlegen. „Das ist ein wichtiger Schritt. Die Neugründung von Betriebsräten muss von der Politik geschützt werden, damit die Beschäftigten ihrem Rechtsanspruch wahrnehmen können“, freut sich SPD-Kommunalpolitiker Jan Bühlbecker.
„Doch auch darüber hinaus müssen wir die Mitbestimmung in den Betrieben weiter stärken“, findet Jan Bühlbecker, der auch Mitglied der DGB-Mitgliedsgewerkschaften ver.di und IG BCE ist. Er sagt: „Betriebsräte sorgen für ein Gleichgewicht in jedem Betrieb und helfen dabei insbesondere auch weiblichen Beschäftigten, die in mitbestimmten Betrieben durch verbindlichere Regeln und Absprachen sowie mehr Transparenz weniger stark benachteiligt werden. Gleichzeitig müssen auch die Beschäftigten von Start-Ups, die – wie zum Beispiel Lieferdienste – oft mit mittelbarer Scheinselbstständigkeit arbeiten, befähigt werden, einen Betriebsrat zu gründen. Ich plädiere daher für einen Rechtsanspruch auf Mitbestimmung und Tarifvertrag! Die staatliche Förderung von Unternehmen könnte zudem daran geknüpft werden, dass die Beschäftigten auf mit Anteilen an einem Unternehmen beteiligt werden – ein Modell, das gerade bei Kapitalerhöhungen bei Start-ups attraktiv ist.“
„Klar ist: Betriebsräte sind in Anbetracht von Automatisierung und Globalisierung nicht aus der Zeit gefallen – im Gegenteil: Diese Entwicklungen bringen auch Möglichkeiten, günstiger und einfacher zu produzieren, wovon auch die Beschäftigten profitieren müssen. Und wenn Beschäftigte an Unternehmensentscheidungen beteiligt werden, werden diese nachhaltiger getroffen. In einer sich immer schneller wandelnden Wirtschaft hilft auch das. Ich bin darum überzeugt, dass die ausgeprägten Mitbestimmungsrechte in Deutschland ein Standortvorteil der Bundesrepublik sind und bleiben – Darum: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag eures Gesetzes, liebe Betriebsräte“, so Jan Bühlbecker abschließend.