Seit Sommer sucht die SPD nach einer neuen Führung. Zahlreiche Teams und ein Einzelbewerber warben in der ersten Runde um das Vertrauen der Mitglieder ihrer Partei. Zwei Teams zogen in die Stichwahl ein: Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sowie Klara Geywitz und Olaf Scholz. Die Ausrichtung der beiden Teams – hier die linke #Eskabolation dort das den Status Quo verwaltende Team Geywitz/Scholz – lässt auf eine anstehende Richtungsentscheidung schließen. Das ist gut! Und davon, dass eine solche notwendig sein wird, bin und bleibe ich auch über die Ergebnisbekanntgabe am Samstag hinaus überzeugt. Denn das 21. Jahrhundert geht im kommenden Jahr in sein drittes Jahrzehnt und hat beispielsweise mit der Wirtschafts- und Finanzkrise, der Migrations- und der drohenden Klimakrise schon zahlreiche eigene Herausforderungen hervorgebracht. Des weiteren stellen sich absehbar Zukunftsfragen zur Zukunft der Arbeit, zu unserem Gesundheitssystem, zur Entwicklung der Rente oder dem Zusammengehen von Freiheit, Wirtschaft und Digitalisierung. Jedoch fehlt es an einem glaubwürdigen sozialdemokratischen Aufbruch, der diese Herausforderungen nicht nur verwaltet, sondern zum Anlass nimmt mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität für die Vielen zu ermöglichen. Ein solcher Aufbruch ist bislang nicht erkennbar geworden, was unter anderem dramatisch fallende Wahlergebnisse der SPD auf Bundesebene (1998: 40,9%, 2002: 38,5%, 2005: 34,2%, 2009: 23%, 2013: 25,7% und 2017: 20,5%), aber auch an der historischen Ungleichverteilung von Vermögen sowie dem dramtischen Investitionsstau festzumachen ist. Auch eine Erzählung wie Europa die Antwort auf wesentliche Zukunftsfragen sein kann, konnte die SPD nicht mehr vermitteln (zur Einordnung das Wahlergebniss zur Europawahl 2019: 15,8%). Das Ausbleiben dieses Aufbruchs ist damit zu erklären, dass nach der Wiedervereinigung und dem damit beendeten Wegfall der Systeme ein neoliberaler Zeitgeist Einzug erhielt – Und dieser Wind auch progressiven Köpfen die Mär des schwachen Staates und des Marktes der alles besser könne als die Allgemeinheit in ihre Politik wehte. Übrigens ist ein sozialdemokratischer Aufbruch auch deswegen nötig, weil die Lücke, welche die SPD hinterlässt, nicht von anderen progressiven Kräften, sondern von Konservativen, Neoliberalen und Neofaschist*innen geschlossen wird.
Eine kritische Regierungsbilanz
Eine Trendwende kann gelingen – das zeigen Beispiele aus Spanien oder Portugal – wenn die Sozialdemokratie sich auch in Deutschland endlich und endgültig von den neoliberalen Irrwegen dieser Zeit löst. Auch betreffend ihres eigenen Regierungshandelns. Entsprechende Beschlüsse hat die Partei zuletzt zwar gefasst, doch solange sie zwar regiert aber die Beschlüsse nicht umsetzen kann und solange die neuen Beschlüsse dann auch noch vom alten Personal vertreten werden, entsteht ganz offensichtlich keine neue Glaubwürdigkeit. Selbst dann nicht, wenn innerhalb des Regierungshandlens gemachte Fehler zum Beispiel mit Mindestlohn und Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung als Antwort auf den auch durch die Agenda-Politik entstandenen Fehlentwicklungen durchgesetzt werden können. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Ich erkenne ausdrücklich an, dass insbesondere die sozialdemokratischen MinisterInnen auf handwerklich hohem Niveau und in einem guten Tempo ihre Aufgaben aus dem Koalitionsvertrag abarbeiten und dabei natürlich auch Fortschritte für diejenigen Menschen erzielen, die ihre Hoffnungen zurecht in die SPD setzten. Und so will ich ausdrücklich das Starke-Kita-Gesetz, das Starke-Familien-Gesetz, die Abschaffung des Solidaritätszuschlags für fast alle, das Paketboten-Schutz-Gesetz und die Grundrente hervorheben. Aber gleichzeitig ist nicht nur in Anbetracht der Wahlergebnisse sondern auch in Anbetracht der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen national wie international festzuhalten, dass die Antworten dieser vermeintlichen Großen Koalition mittlerweile zu klein sind. Nach 14 GroKo-Jahren seit 2005 und der CDU-Tolerierungen während der Eurokrise ab 2010 ist das auch nicht weiter verwunderlich: Es fehlen Gemeinsamkeiten auf denen aufbauen Zukunftsfragen tatsächlich beantwortet werden könnten – und damit fehlt leider auch die politische Legitimation dieser Regierung.
Eine Randnotiz: Als Norbert Walter-Borhans und Saskia Esken in einem Interview erklärten, dass die Benennung eines SPD-Kanzlerkandidaten (die geschlechtergerechte Formulierung kann übergangen werden, weil die Fragesteller dabei wohl ausschließlich an Olaf Scholz gedacht haben dürften) nicht die drängenste Herausforderung für die neuen SPD-Vorsitzenden sei, sprachen die Unterstützer*innen ihrer parteiinternen MitbewerberInnen von einer so beginnenden „Verzwergung“ der Partei. Für mich stellt die eigentliche Verzwergung der SPD – mal ganz abgesehen davon, dass ich es für schwer vermittelbar hielte vor dem Zurückgewinnen von Glaubwürdigkeit einen zusätzlichen Machtanspruch zu formulieren – der Drang dar, unbedingt selbst als reiner Korrekturbetrieb der Union in einer Bundesregierung bleiben zu wollen. Es ist nicht die Aufgabe der Sozialdemokrate auszugleichen, was CDU und CSU ohne uns wesentlich schlechter machen würden, sondern selbst für unsere Vorstellung gemeinsam mit Gewerkschaften und denen, die Solidarität brauchen sowie der solidarischen Zivilgesellschaft zu kämpfen.
Perspektiven für das Ende der Koalition
Die SPD hat nach der Wahlniederlage bei der Bundestagswahl 2017 anerkannt, dass sie sich programmatisch weiterentwickeln muss. Mit den Konzepten zur Kindergrundsicherung und zum Bürgergeld, zur Bürgerversicherung im Gesundheitsweisen und bei der Pflege, zur Erhöhung des Mindestlohns, zur nachhaltigen Infrastruktur- und Verkehrspolitik, zum Wohnungsmarkt, zur Vermögenssteuer und zum Klimaschutz hat sie zukunftsweisende Beschlusspapiere vorgelegt. Wirklich fortschrittliche Papiere, die in mir eine neue Leidenschaft für die SPD entfacht haben – Aber ich befinde mich in einer waschechten sozialdemokratischen Bubble, denn: In der öffentlichen Diskussion kommen diese Beschlüsse kaum an und werden uns spätestens nach dem nächsten Koalitionsausschuss mit schmerzhaften Kompromissen auch nicht länger abgenommen – egal, wie leidenschaftlich wir sie verteidigen. Zur Halbzeit der dritten Bundes-GroKo in 15 Jahren muss deswegen ein für alle mal festgestellt werden: Eine glaubwürdige programmatische Erneuerung ist für die SPD nicht unabhänig vom Regierungshandeln möglich. Im Umkehrschluss heißt das: Ja, die SPD braucht einen Neustart – außerhalb einer Koalition mit CDU und CSU. Diesem Neustart kann ein letzter Versuch zur Erneuerung in der Großen Koalition vorweg gestellt werden: Wenn sich die Union auf die Umsetzung weitreichender Sozial- und Klimaschutzreformen einlässt, die im wesentlichen den jüngsten Beschlüssen des SPD Parteivorstandes entsprechen, sollte die SPD selbstverständlich in der Regierung bleiben, andernfalls halte ich einen Austritt aus der GroKo für unsausweichlich. Übrigens sehe ich den Zeitpunkt nicht als ungünstig an: Setzt die CDU auf eine Minderheitsregierung, die sich wechselseitig von der SPD und Grünen und FDP tolerieren lässt, hat Deutschland eine stabile Regierung zu Beginn der EU-Ratspräsidentschaft, kommt es doch noch zu einem Jamaika-Bündnis kann sich die SPD als linke Opposition profilieren und im Falle von Neuwahlen droht kaum ein schlechteres Ergebnis als nach zwei weiteren Jahren im bestehenden Trend – eher im Gegenteil. In jedem dieser drei Fälle könnte die SPD endlich wieder klar herausstellen für was sie steht und wäre weil ihre Absage an eine Große Koalition glaubwürdig wäre, auch glaubwürdig. Ich bin deswegen davon überzeugt: Mit einem inhaltlich begründeten Ende der Großen Koalition und einem klaren Schnitt hat die SPD bei der nächsten Wahl ein Stimmpotenzial wie es zuletzt der Schulz-Hype andeutete. Ein Randgedanke: Im Fall von Neuwahlen deutete viel auf einen echten Lagerwahlkampf – rot-rot-grün gegen schwarz-gelb – hin, die SPD täte dann gut daran, auch eine Ampelkoalition unter Einbeziehung der FDP auszuschließen und könnte sich so glaubwürdig in ihrem Kerngebiet der Sozialpolitik profilieren könnte. Damit wäre dann auch ihr Wahlkampf im wesentlichen auf die Kernzielgruppe ausgerichtet – auch das wäre ein nicht zu unterschätzender Effekt beim Versuch, Vertrauen zurückzugewinnen. Zudem bin ich davon überzeugt, dass dieser anstehende Lagerwahlkampf auch einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der AfD leisten würde, weil die Wahlberechtigten durch ihn eine klare Auswahl zwischen zwei unterschiedlichen Gesellschaftsentwicklungen bekäme.
Aber – so ehrlich will ich sein – ich halte diese Fragestellung in den Überlegungen zur Zukunft der SPD für zweitrangig. Wie viele andere und insbesondere wie der überwältigende Teil meiner Generation, der die SPD nur aus der Agenda-Zeit und als Junior-Partinerin von Angela Merkel kennt, sehne ich mich auch einfach nach einem Neuanfang. Ich will in einer Partei arbeiten, die an einer langfristigen und strategischen Vision arbeitet, die natürlich meinen Großeltern und Eltern aber eben auch mir und meinen Kindern eine klare Vision einer freien Zukunft bietet, die bewusst mehr Gerechtigkeit gestaltet und eben nicht in einer Partei, die sich selbst lediglich als Korrekturbetrieb entstehender Ungerechtigkeiten sieht. Und ich will in einem Land leben, das grundsätzliche politische Debatten führt statt sich bis zum Wiedererstarken des Faschismus’ selbst zu entpolitisieren. Dass meine strategischen Überlegungen sich mit meinem politischen Wünschen decken bestärkt mich in meinem Engagement in der SPD und für die genannte politische Strategie. Und deswegen verhehle ich auch nicht, dass ich Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans nicht nur politische Verbündete in der SPD sondern auch HoffnungsträgerInnen für all jene sehe, die Lust haben auf eine solche progressive Politik.
Themen für den sozialdemokratischen Aufbruch
Eingangs erwähne ich die Notwendigkeit des bislang ausgebliebenen sozialdemokratischen Aufbruchs für das 21. Jahrhundert. Abschließend will ich in aller Kürze auf seine Ausgestaltung eingehen. Dazu gehören in meinen Augen insbesondere vier Punkte:
1. Der Sozialstaat der Zukunft
Der Sozialstaat der Zukunft umfasst alle Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge und gibt sie zurück in öffentliche Hand. Das beginnt dabei, dass eine angemessene gesetzliche Rente wieder glaubwürdig zu einem guten Leben reichen muss, reicht über die gefassten Sozialstaatsbeschlüsse wie zum Kinder- oder Bürgergeld inklusive Sanktionsfreiheit, den Bürgerversicherungen sowie dem Mietendeckel und reicht bis zur Rückgesellschaftung von Wasser- und Energieversorgung. Wir brauchen mehr Raum für Sozialarbeit und das klare Bekenntnis zur Gemeinschaftsschule. Selbstverständlich muss auch die Polizei gut ausgerüstet werden – jedoch muss Sicherheitspolitik Präventions-orientiert sein. Wir müssen die Existenz von kleineren Krankenhäusern zur Regelversorgung sowie von großen Kliniken zur Vollversorgung – natürlich inklusive einer ausgewogenen Selektion durch Zentrenbildung – garantieren. Zum Sozialstaat der Zukunft gehört aber auch das Recht auf Weiterbildung und Homeoffice, ein spürbar höherer Mindestlohn und eine Stärkung der Tarifbindung auch im (Teil-)Digitalen. Langfristig braucht es darüber hinaus auch Vergesellschaftungen, da diese eine Demokratisierung der Wirtschaft bedeuteten und in Innovationskraft sowie Nachhaltigkeit Verbesserungen gegenüber einem rein kapitalistischen System versprechen – bei Staat-Up-Krediten könnte sie deswegen zum Beispiel eine Teilbedingung werden. Denn es sind nicht zu hohe Arbeitsschutzstandards, die ein deutsches Tesla verhindern – es ist das festgefahrene Denken der Konzernmanager*innen!
2. Ein Green New Deal
Wir erleben in Deutschland einen horrenden Investitionsstau von rund 300 Milliarden Euro und einen Investitionsbedarf von sogar 500 Milliarden Euro. Dieses Summe umfasst einerseits die notwendigen Investitionen in die digitale Infrastruktur als auch die Sanierung von Straßen und Schulen als auch den ökologischen Umbau inklusive den Ausbau des Bahnnetzes zum fortschrittlichsten in ganz Europa und der Abschaffung der Ticket-Gebühren. Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans schlagen die Umsetzung dieser Investitionen über 10 Jahre als Fortschrittsprogramm vor. Damit würden Klimaschutzziele wieder erreichbar und Vollbeschäftigung erreicht. Digitale Infrastruktur stünde darüber hinaus allen Bürger*innen gleichermaßen zur Verfügung und ermöglichte so die Entwicklung neuer Partizipationsmöglichkeiten sowie von öffentlich-rechtlichen sozialen Medien. Neue Arbeitsplätze würden nicht zuletzt im Bereich der erneuerbaren Energien entstehen, was auch die energieintensive Industrie in Deutschland (zum Beispiel die Stahlproduktion) absichern würde. Deutschland würde somit Vorreiter in einer modernen und nachhaltigen Wirtschaft!
3. Die Vereinigten Staaten von Europa und mehr Kulturdiplomatie in der Welt
Importe von Produkten sollten auch von den Arbeitsschutzstandards in Erzeugungsländern abhängen. Dieser und viele weitere Punkte können in einer zunehmend vernetzten Welt längst nicht mehr auf nationaler Ebene gelöst werden. Das ist auch nicht schlimm – im Gegenteil: Ein sozialer und föderaler europäischer Bundesstaat demokratisiert nicht nur die EU, er sicherte auch Europas Gewicht in der Welt und damit eine gewissenhafte Stimme für Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie. Zudem entstünde eine größere Unabhängigkeit von Autokraten in der Welt. Dazu gehört auch ein europäisches Investitionsprogramm, das an die Stelle der Austeritätspolitik tritt. Zudem setzten die Vereinigten Staaten von Europa auf internationale Kulturpolitik, um die Entwicklungszusammenarbeit mit anderen Regionen der Welt zu stärken und eine bessere Alternative für diese als beispielsweise die Volksrepublik China anzubieten. Auch ein europäischer Green New Deal, den der Sozialdemokrat Frans Timmermans in der EU-Kommission erarbeiten soll, gehört dazu. Abschließend setzen sich die Vereinigten Staaten von Europa für ein globales Migrationsrecht ein und beenden so ihre Erpressbarkeit wie im Flüchtlings-Deal mit der Türkei.
4. Eine Finanzpolitik, die Lasten gerecht verteilt
All dies kann nur durch eine gerechte Verteilung der Lasten finanziert werden. Zur Einordnung: Das Vermögen ist in Deutschland heute wieder so ungleich verteilt wie zu Zeiten des zweiten Weltkrieges. Wir brauchen daher eine weitreichende Erbschaftssteuerreform, eine Reichen- und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Aber auch eine Kapitalertragssteuer und eine gerechtere Unternehmensbesteuerung. Gleichzeit müssen kleine und mittlere Einkommen deutlich entlastet werden. Dies ist nicht Kernanliegen der Sozialdemokratie – Aber Voraussetzung zur Umsetzung dieser.
Auf in die Diskussion
Dieser Text scheut sich nicht vor klaren Formulierungen – Und das bewusst: Ich will meinen Standpunkt zum Auftakt einer wichtigen Diskussion so offen wie möglich einbringen, weil ich davon überzeugt bin, dass dies Voraussetzung für einen ehrlichen Austausch ist. Und ich davon überzeugt, dass wir genau den brauchen. Am Ende leben Diskussionen aber auch vom Kompromiss zum Ende der Debatte – und natürlich bin ich dazu bereit. Doch davor freue ich mich auf einen belebenden Schlagabtausch für das einigende Ziel einer wieder stärker werdenden SPD!