Ich wurde 1995 geboren, ein Jahr nachdem das Bundesliga-Abendteuer der SG Wattenscheid 09 endete – Ein idealer Zeitpunkt, um den folgenden Abstieg des Traditionsvereins bis in die Niederungen des Amateurfußballs aus nächster Nähe mitzuerleben. Und nachdem mein Vater mich als Kind einmal ins Stadion mitgenommen hatte, stand für mich fest: Genau so würde ich meine Kindheit und Jugend auch verbringen.
Das erste Spiel an das ich mich erinnern kann? Es war das letzte Spiel des heutigen Co-Trainers von Markus Weinzierl und eines ehemaligen Spielers von Real Madrid im schwarz-weißen 09-Trikot – oder kürzer: Das letzte Spiel von Halil und Hamit Altintop für Wattenscheid. Mein erster Lieblingsspieler? Das war der Torhüter Michael Joswig. Mein bis dahin größtes Highlite der Kindheit: Der Aufstieg in die Oberliga in Ahlen – Nach dem Spiel sollten die Wattenscheid-Fans zum feiern auf den Rasen gelassen werden. Wir Kinder wurden schon vor Spielschluss in den Innenraum vorgelassen. Natürlich nutzte ich so meinen Vorsprung, um vor allem anderen besagtem Schlussmann zu gratulieren und als Souvenir seine Aufstiegs-Torwandhandschuhe zu ergattern. Sie hängen bis heute – neben einem signierten Foto von Willy Brandt – über meinem Schreibtisch. Und sie hingen da auch, als „Jossi“ vor einigen Jahren schwer erkrankte und von den Wattenscheider Fußballfans viele Grüße und Solidaritäsbekundungen erhielt.
Im Ruhrgebiet, da hält man zusammen
Im Ruhrgebiet, so sagt man, da hält man zusammen. Und so passte zwischen Fans und Spieler der SG Wattenscheid 09 – zumindest nachhaltig – auch dann kein Blatt als auf dieses up ein lang anhaltendes down folgte. Existenzkampf und Abstieg bis in die sechste Liga. Das schlimmste Spiel meines Lebens? Es war am vorletzten Spieltag der Oberliga West gegen die TSG Sprockhövel. Verloren, der sichere Stoß in die sechstklassige Westfalenliga. Ein Trainer aus dem Schalker Nachwuchsbereich kam und ich entschied mich, dass mir mitfiebern auf der Tribüne nicht mehr reicht und fing an mich ehrenamtlich für meinen Verein zu engagieren: Erst organisierte ich für die Halbzeitpause ein Fan-Elfmeterschießen und suchte Einlaufkinder zusammen, dann kümmerte ich mich um die Öffentlichkeitsarbeit und half später zudem immer wieder auf der Geschäftsstelle aus.
Eines änderte sich in trotz alledem übrigens bis heute nie: Wenig mache ich lieber als Samstagnachmittag auf den Holzbänken der alten Tribüne des Wattenscheider Lorheidestadions zu sitzen, eine Bratwurst zu essen und die in schwarz und weiß gekleideten Spieler lautstark dahingehend zu bestärken, doch (endlich) das (verdammte) Tor zu treffen. Und wenn sie es geschafft haben, mit meinem Vater abzuklatschen.
Eine neue Liga ist wie ein neues Leben
In den folgenden Jahren hat wir dazu auch wieder öfter die Gelegenheit. Die SG Wattenscheid 09 schafft die Rückkehr in die Regionalliga. Den Aufstieg feierten Fans und Spieler gemeinsam in der alteingesessenen Kneipe „Eulenspiegel“. Wir sangen: „Eine neue Liga ist wie ein neues Leben. Was einmal war, ist vorbei und vergessen und zählt nicht mehr.“ Am nächsten Morgen fuhr mich mein Vater zur Schule – Um acht hatte ich Chemie-Unterricht.
Auf den Tribünen des Lorheidestadions sind alle gleich. Alle klatschen mit allen ab und alle feuern gemeinsam an. In den letzten Jahren gab es rund um unseren Verein immer wieder Streit, doch während der neunzig Minuten auf dem Rasen war der immer auch auf der Tribüne vergessen. Mich hat das beeindruckt und darin bestärkt, das es sich auch über den Fußball hinaus lohnt, nach Verbundenen zu suchen statt das Trennende zu bestärken.
Wirklich gemeinnützig
Kommen wir aber auch noch einmal auf die Altintops oder vielmehr auf die Jugendarbeit der SGW zu sprechen: Seit einiger Zeit engagiere ich mich nämlich auch politisch in Bochum und Wattenscheid. Nicht nur in diesem Funktion habe ich gelernt, wie wichtig zum Beispiel der Sport für gelingende Integrationsarbeit ist. Für das Stadionmagazin der 09er habe ich einmal einen Artikel über die damalige D-Jugend und ihren überaus sympathischen Trainer Bartosz Maslon geschrieben. Bartosz, ein im Ruhrgebiet geborener junger Mann, Ende zwanzig, hatte zu Beginn seiner Zeit als Fußballer in Polens Jugendnationalmannschaften gespielt, auch in der polnischen zweiten Liga als Sturmpartner eines gewissen Robert Lewandwoski gekickt und kehrte anschließend, als im große Durchbruch verwehrt blieb, nach Wattenscheid zurück, um sich gemeinsam mit seinem Bruder mit einem Übersetzungsbüro selbstständig zu machen, für die SG Wattenscheid 09 zu spielen und sich als Jugendtrainer zu engagieren. Wie die anderen 09er-Nachwuchs-Verantwortlichen setzt er sich für gelingende Integration so ganz praktisch ein. Das macht die SG Wattenscheid 09 nicht nur auf dem Papier gemeinnützig.
Übrigens: Das größte Spiel meines bisherigen Fan-Lebens folgte nur kurze Zeit später. Zum ersten Mal seit über zehn Jahren qualifizierte sich die SGW wieder für den DFB-Pokal. Nach all den Enttäuschungen und Lektionen über Orte, von deren Existenz man vorher gar nicht wusste (oder kannten Sie etwa Hönnepel-Niedermörmter), waren wir damit zurück auf der großen Fußballbühne und schieden nur ausgesprochen knapp und wirklich sehr unglücklich gegen den 1. FC Heidenheim aus. Die Trikots: Wie mein politisches Herz – Rot. Mit auf dem Platz: Daniel Keita Ruel – Ein Spieler, der das Leid der letzten Jahre fast schon personifiziert. Bei der Retter-Aktion vor gut einem Jahr habe ich sein Pokaltrikot erstanden. Für viel zu viel Geld. Doch seitdem hängt auch dieses Shirt über meinem Schreibtisch – Neben den Handschuhen von Michael Joswig und dem Autogramm von Willy Brandt.
Wattenscheid 09 wird niemals untergeh’n
Gestern hat die SG Wattenscheid 09 nach vielen wackeligen Jahren Insolvenz anmelden müssen. Man meint: Eine Entscheidung auf die man sich auch emotional hätte längst vorbereiten können. Kann man aber natürlich nicht. Beziehungsweise: Höchstens sachlich. Nach einem Insolvenz-Gutachten wird aller Voraussicht nach ein Insolvenzverfahren eröffnet werden, aus dem Gutachter wird wohl der Insolvenzverwalter. Er wird eine ordentliche Insolvenzmasse vorfinden und eine positive Fortführungsprognose aufstellen. Der SG Wattenscheid 09 werden neun Punkte abgezogen werden. Und es wird ein Kampf ums Überleben – nicht nur sportlich. Ich will, dass wir diesen Kampf unbedingt gewinnen.
Darum sage ich: Jetzt ist nicht die Zeit für Schuldzuweisungen – Schon gar nicht an diejenigen, die unseren Verein über viele Jahr getragen und am Leben gehalten haben. Jetzt ist die Zeit zusammen zu kämpfen. Weil dieser Verein soviel mehr ist als nur ein Sportverein, in dessen Spielstätte man jeden zweiten Samstag eine gute Zeit verbringt. Er ist Erinnerung, Erfahrungen, Zuhause und liebste Freizeitbeschäftigung. Er ist Austausch, Zusammenhalt, Treffpunkt und (Rück-)Halt für all diejenigen, die mit ihm leiden. Für uns alle gilt, was wir vor jedem Spiel singen: Wattenscheid 09 darf niemals untergeh’n.
Darum lasst uns kämpfen – Und das schon ab Montag: Lasst uns das Stadion gegen die Sportfreunde Lotte so voll machen wie seit vielen Ligaspielen nicht mehr und lasst uns die Mannschaft zu einem Zeichen (in Form von drei Punkten!) treiben, dass in unserer SGW noch Leben, Liebe und Kampf steckt. Und dann lasst uns damit einfach nicht mehr aufhören – bis wir gerettet sind. Denn – ich korrigiere das Zitat – Wattenscheid 09 wird niemals untergeh’n. Hey!