100 Jahre Weimarer Verfassung – Jan Bühlbecker: Jede Demokratie braucht Demokrat*innen

Zehn Grad minus. Im bitterkalten Februar 1919 waren die Abgeordneten in unbeheizten Zügen nach Weimar gereist, weil Berlin in den Revolutionswirren zu unsicher war. Nach weniger als sechs Monaten Beratung waren sie am Ziel. Mit 262 gegen 75 Stimmen bei einer Enthaltung gaben die Mitglieder der Nationalversammlung am 31. Juli 1919 dem Deutschen Reich eine demokratische Verfassung. Ein historischer Moment nach dem gescheiterten Versuch von 1848. Elf Tage später – also genau heute vor 100 Jahren wurde die Verfassung der Weimarer Republik unterschrieben – damit stand sie dann endgültig, die erste Demokratie auf deutschem Boden. Der Vorsitzende der SPD in Wattenscheid-Mitte und Westenfeld mahnt anlässlich dieses Gedenktages: „Das sie nur 14 Jahre hielt mahnt bis heute: Für die Demokratie muss man eintreten. Jeden Tag!“

 

Weimarer Verfassung mit herausragenden Freiheitsrechten – aber fehlender Sicherheit

Die Verfassung von 1919 brachte die deutsche Gesellschaft vom Obrigkeitsstaat des Kaiserreiches zu einem der freiheitlichsten Staaten der Welt: „Das Wesen unserer Verfassung soll vor allem Freiheit sein. Freiheit für alle Volksgenossen“, sagte der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der später erster Reichspräsident wurde und es bis zu seinem frühen Tod 1925 blieb. Und in der Tat brachte die Weimarer Verfassung nicht nur die parlamentarische Republik und verankerte das Frauenwahlrecht, sondern sie brachte auch Rechts- und Sozialstaatlichkeit. Plötzlich standen anstelle des Kaisers die Bürger*innen über allem und im Mittelpunkt. Friedrich Ebert: „Es ist eine Verfassung, in der das Volk unmittelbare Rechte hat, Volksinitiative, Volksgesetzgebung, auch das Volk als Schiedsrichter, wenn sich die politischen Gewalten streiten, das ist stärker institutionalisiert als in irgendeiner anderen Verfassung.“

So gab einen ganzen Abschnitt in der neuen Verfassung, in dem es um wirtschaftliche und soziale Grundrechte ging, das Recht auf einen Arbeitsplatz oder, das Recht auf eine menschenwürdige Wohnung. Formulierungen, die über das heutige Grundgesetz in diesen Teilen hinausgehen. Aber auch die Artikel zur Meinungs-, Glaubens-, Presse- und Versammlungsfreiheit sind fast wortwörtlich übernommen, auch die Freiheit der Person und die Gleichheit vor dem Gesetz wurden bereits vor 100 Jahren – wenn auch beispielsweise in Fragen der Gleichstellung der Geschlechter weitaus zurückhaltender – festgeschrieben. Allerdings fehlte der Weimarer Verfassung die zentrale Institution, um die Rechte einklagen zu können: ein Verfassungsgericht. Und auch die demokratische Kontrolle konnte durch Notstandsverordnungen, Reichstagsauflösungen, die zu starke Abhängikeit von der Person des Reichspräsidenten und den fehlenden Schutz der Verfassung vor radikalen Kräften war in der Weimarer Verfassung auf verherende Art und Weise zu wenig ausgeprägt oder schlicht nicht vorhanden. „Kurzum: Die Verfassung war zu wenig standhaft und konnte so viele der Versprechen, die sie machte, schlicht nicht einhalten. Solange sie sich unter einem überzeugten Demokraten wie Friedrich Ebert entwickelte, konnte sie sich zwar dennoch entwickeln, hielt zum Beispiel dem Kapp-Putsch 1920 stand, doch ohne einen kämpferischen Demokraten im höchsten Amt war leider zu leicht auszuhöhlen“, fasst der SPD-Kommunalpolitiker zusammen.

Übrigens: Den Verfassungsentwurf hatte Hugo Preuß verfasst, einer der großen sozialliberalen Rechtsgelehrten seiner Zeit, der als Jude im Kaiserreich keine universitäre Anstellung bekommen hatte, nun aber von Friedrich Ebert für den Verfassungsentwurf herangezogen und zum Innenminister berufen wurde. An ihn gerichtet formulierte Ebert auch sinnbildlich für die gesamte Republik: „Jede Freiheit, an der mehrere teilnehmen, muss ihre Satzung haben. Diese haben Sie geschaffen. Gemeinsam wollen wir sie festhalten.“

 

Jan Bühlbecker: Demokratie braucht Demokrat*innen

Doch eben diese Gemeinsamkeit, an die Friedrich Ebert im August 1919 appelliert hatte, blieb ein frommer Wunsch. Insbesondere nach dem Tode Friedrich Eberts war es kaum noch möglich stabile Regierungen zu bilden. Und als schließlich die größte Krise der Weimarer Republik, die Weltwirtschaftskrise, hereinbrach, rücken die Feinde der demokratischen Ordnung Schritt für Schritt an die Schalthebel der Macht. Sie destabilisierten aus Eigennutz die Institutionen und höhlten so die Verfassung zusehends aus. Jan Bühlbecker: „Die Weimarer Republik ist also nicht untergegangen, sie ist zerstört worden! Denn die Verfassung – das ist unter Historiker*innen längst die allgemeine Analyse – war nicht das Problem der ersten deutschen Demokratie. Sondern es war die Entschlossenheit der Monarchist*innen, sie zu beseitigen, notfalls auch mit Hilfe des Tyrannen Adolf Hitler und seiner Bewegung sowie die Weigerung anderer politischer radikaler Kräfte eben dies mit aller Entschlossenheit zu verhindern.“

Die Botschaft des heutigen Gedenktages ist deswegen besonders wichtig – erklärt der Vorsitzende der hiesigen Sozialdemokratie: „Jede Demokratie braucht Demokrat*innen. Menschen, die sich für sie engagieren – in Parteien, Gewerkschaften, Vereinen, der Nachbarschaftshilfe – aber vor allem braucht sie Menschen, die sich all denen, die sie aushöhlen oder zerstören wollen, entschlossen in den Weg stellen.“ Die SPD hat deswegen eine Aufstockung des Programms „Jugend erinnert“ durchgesetzt und setzt sich auch darüber hinaus für eine Aufstockung von Mitteln für die Förderung von Demokratie und den Kampf gegen Rechtsextremismus ein. „Und in Anbetracht der jüngsten politischen Entwicklungen, die im Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke aufs Brutalste gipfelten, sage ich: Es wird – auch wenn das Grundgesetz wehrhaft und stabil ist – bei den nächsten Wahlen ganz besonders darauf ankommen, dass wir eben genau dies tun“, so Jan Bühlbecker abschließend.