In den letzten zweieinhalb Wochen hielt die Geschichte der Sea Watch 3, einem privaten Seenotrettungsschiff auf dem Mittelmeer, und ihre mutige Kapitänin Carola Rackete Europa in Atem, wurde dem Boot doch jeder sichere Hafen in Italien und Malta verwehrt, um die 52 Geflüchteten, welche sie aus Seenot gerettet hatten, an Land zu bringen. Gestern dann hat das Rettungsschiff der deutschen Hilfsorganisation Sea-Watch mit 40 Migrant*innen an Bord im Hafen der italienischen Insel Lampedusa angelegt. Die 12 weitere Geflüchtete – Schwangere, Verletze, Kinder – konnten bereits in der Vorwoche an Land gebracht werden. Die Hafenpolizei sei über die Entscheidung, ohne Zustimmung der Behörden nach Lampedusa zu fahren, informiert worden.
Vorher begründete die Kapitänin der Sea Watch 3, Carola Rackete, ihren Schiff mit der unerträglichen physischen und psychischen Belastung der Geretteten und ihrer Crew – 22 Helfer*innen und einige italienische Politiker*innen waren an Bord -, die es nach der langen Zeit auf dem engen Boot nicht mehr aushielten. Nach Angaben von Sea Watch Sprecherin Giorgia Linardi würden Deutschland, Portugal, Frankreich und Luxemburg die geretteten Menschen von dem Schiff aufnehmen. Mittlerweile durften die Geflüchteten das Boot auch verlassen und werden vor ihrem Transport in die aufnahmebereiten Länder medizinisch versorgt. Zu Erinnerung: Auch die feste Zusage europäischer Länder, die geretteten Menschen aufzunehmen und die Kosten für ihren Transport zu übernehmen, führte nicht dazu, dass Italien mit seiner rechten Regierung dazu bereit gewesen wäre, die Menschen an Land gehen zu lassen.
Anschließend ist Carola Rackete dann nach dem Anlegen von der Polizei festgenommen worden und wurde mittlerweile unter Hausarrest gestellt. Bereits am Freitag hatte die italienische Staatsanwaltschaft gegen sie Ermittlungen eingeleitet. Vorgeworfen werden ihr laut Linardi unter anderem Beihilfe zur illegalen Einwanderung und Verletzung des Seerechts. Ihr drohen empfindliche Geldstrafen und bis zu zehn Jahren haft. Der italienische Innenminister Matteo Salvini forderte gestern Abend in einem Radiointerview „die Höchststrafe“ für Rackete und ihre Crew. Sea Watch-Geschäftsführer Johannes Bayer hingegen lobte Rackete: „Wir sind stolz auf unsere Kapitänin, sie hat genau richtig gehandelt. Sie hat auf dem Seerecht beharrt und die Menschen in Sicherheit gebracht“, schrieb er auf Twitter.
Und Johannes Bayer liegt damit richtig! Wer Menschen aus Seenot rettet, kann kein*e Verbrecher*in sein – natürlich nicht moralisch und erst Recht nicht nach internationalem Seerecht. Im zurückliegenden Europawahlkampf hat Frans Timmermans, erster stellvertretender EU-Kommissar und als solcher zuständig für Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte, diesen Grundsatz auf einen klaren Nenner gebracht:
Jedes Mal, wenn ein Mensch im Mittelmeer ertrinkt, stirbt mit ihm auch die Seele Europas!
Ich bin davon überzeugt, dass dieser Satz fundamental und eben keine Untertreibung ist. Denn alle Kräfte, die nach einer europäischen Integration rufen, begründen dies – zu Recht! – auch mit dem zunehmenden Wettbewerb mit den USA unter Trump, Russland unter Putin und China unter Xi Jinping. Es braucht ein starkes und geschlossenes Europa, um unsere Werte wie Freiheit und Vielfalt und unsere Grundsätze wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen – Ein in diesen Werten und Grundsätzen geschlossenes Europa!
Wie wollen wir sonst auch glaubhaft sein – beispielsweise wenn es um die Frage von multinationalen Handelsverträgen oder die zukünftigen Zusammenarbeit mit Afrika geht -, wenn wir mit anderen verhandeln? Und wie sicher ist eigentlich als das Fortschrittliche, was unser Leben in Europa ausmacht, wenn wir es nicht mit aller Entschlossenheit auch nach Außen leben und verteidigen? Um es klar zu sagen: Ich glaube nicht, dass Seenotrettung eine Frage des politischen Kalküls seien darf, es ist selbstverständlich zuforderst eine moralische Verpflichtung und Notwendigkeit, eigentlich sogar eine menschliche Selbstverständlichkeit, aber es gibt eben auch keinen vernünftigen politischen Grund, der gegen sie spricht. Im Gegenteil: Sie ist von fundamentaler Bedeutung für die Zukunft Europas!
In den letzten Stunden ging es mir deswegen nicht gut, denn wenn Europa von diesen Grundsätzen weiter abrückt, wird es scheitern. Und das wäre die grausamste Entwicklung der vergangenen 70 Jahre! Aber es gibt auch Hoffnung: Allein am gestrigen Tag sind über 150.000€ für die Crew der Sea Watch 3 gesammelt worden. Und das nur in Deutschland. Mit einer SMS an die 81 190 0 mit dem Inhalt SeaWatch5, für 5 Euro, beziehungsweise SeaWatsch10, für 10 Euro, kann jede*r von uns helfen, diesen Betrag immer weiter zu erhöhen. So zeigen wir, dass es in unser Zivilgesellschaft eine große Hilfsbereitschaft gibt – Auch für die Helfer*innen. Und wir appellieren an die Bundesregierung, alles zu tun, um die sofortige Freilassung von Carola Rackete und die Freigabe ihres Schiffes für die weitere Rettung zu erwirken! Wie gesagt: Das ist eine menschliche Selbstverständlichkeit.
Doch damit allein ist es natürlich nicht getan. Private Seenotrettung ist nur notwendig, weil staatliche Stellen versagen. Zudem haben die Nord- und Mitteleuropäer*innen den Süden Europas zu lange allein gelassen und die EU sich insgesamt zu lange nur für einseitig-profitabelen Handel statt einer nachhaltigen Entwicklungspartner*innenschaft mit Afrika interessiert. Es ist Zeit, Carola Rackete und ihrer Crew ein generelles Umdenken der europäischen Asyl- und Migrationspolitik zu widmen: Wir brauchen endlich wieder eine starke staatliche Seenotrettung, die nicht abschreckt, sondern verlässlich Leben rettet und keinesfalls länger mit Diktatoren und fatalen Bedingungen paktiert, sondern den Schutzsuchenden tatsächlich hilft. Wir brauchen eine solidarische Ablösung des bisherigen Dublin-Verfahrens, welche weder die südeuropäischen Ländern noch uns allein lässt. Und wir legale Wege – beispielsweise im Bereich der Arbeitsmigration – nach Europa sowie eine starke Investitionspolitik in Bildung, Kultur, Sport und Wirtschaft statt der bisherigen ausbeutenden Freihandelspraxis.
Denn nur so können wir Europa retten!
Hoch die internationale Solidarität!