Jan Bühlbecker auf dem Parteitag der SPD Bochum.

Zum Rücktritt von Andrea Nahles, zur Neuaufstellung der SPD

Anlässlich der heutigen Rücktrittsankündigung von Andrea Nahles erklärt der Vorsitzende der SPD in Wattenscheid-Mitte und Westenfeld, Jan Bühlbecker:

Andrea Nahles tritt als Vorsitzende der SPD und ihrer SPD-Bundestagsfraktion zurück. Sie tut das mit gewohnt klaren Worten und stellt sich damit in den Dienst ihrer Partei. Für die SPD Wattenscheid-Mitte/Westenfeld danke ich ihr für ihren Einsatz und die unter ihr begonnene inhaltliche Profilschräfung. Persönlich ergänze ich: Meinen großen Respekt vor ihrer Entscheidung und meine massive Kritik an den verbalen Entgleisungen ihrer parteiinternen Gegner in den vergangenen Tagen. In meinen Augen war Andrea Nahles die richtige Parteivorsitzende in der richtigen zeit.

Klar ist aber auch: Dieser Rücktritt allein löst das Problem unserer Partei überhaupt nicht. Wir müssen dringend Glaubwürdigkeit zurückgewinnen – Dazu gehört, dass es nicht in Ordnung ist, wenn wir eine Digitalsteuer fordern und der eigene Finanzminister sie dann verhindert oder die eigene Bundesjustizministerin im Europarat für die Urheberrechtsreform stimmt, die Tage zuvor ein Parteikonvent auch mit ihrer Stimme abgelehnt hatte – wie gut auch immer man dies vielleicht im Einzelfall auch begründen kann.

 

Stattdessen brauchen wir dafür neue inhaltliche Positionierungen:

1. Eine kompromisslos sozialdemokratische Politik für die Bewahrung von Klima und Umwelt, welche die Bürger*innen stärkt und auch unsere Wirtschaftskraft nachhaltiger macht.

Das heißt: Wir müssen den Kohleausstieg wie von der Kohlekommission vorgeschlagen schaffen und ihn sozialverträglich gestalten und flankieren. Wir müssen die Erneuerbaren Energien dezentral massiv ausbauen und Speichertechnologien und den Netzausbau konsequent vorantreiben. Dabei müssen wir neue Arbeitsplätze schaffen und sicherstellen, dass sie da entstehen, wo durch die Energiewende alte bedroht sind. Wir müssen in Städten nachverdichten statt die verbliebenen Grünflächen zu erschließen. Wir müssen ein Tempolimit einführen und dafür sorgen, dass alle den ÖPNV kostenlos, den Zug deutlich günstiger nutzen können. Wir müssen Flugbenzin besteuern und alternative Antriebe im Schiffsverkehr fördern. Wir müssen den Dieselbetrug konsequent beenden und dafür sorgen, dass neue Antriebsformen entwickelt werden – zum Beispiel in Wolfsburg. Wir müssen die Subventionierung von Fleisch stark zurückfahren und sie durch die Subventionierung von Gemüse und Getreide ersetzen sowie kleinere Betriebe besser fördern. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass insbesondere Familien mit kleineren Einkommen in ihrer Wahlfreiheit nicht eingeschränkt werden.

2. Eine am Menschen, am Gemeinwohl und an den bürger*innenlichen Freiheitsrechten orientierte Gestaltung des digitalen Wandels, die Demokratie und Partizipation nicht nur sichert – sondern ausbaut.

Das heißt: Wir müssen eine Digitalsteuer durchsetzen, anstatt sie auf EU-Ebene zu verhindern. Schnelles und sicheres Internet muss eine Aufgabe der Daseinsvorsorge werden. Digitale Souveränität für alle muss der Auftrag von Schulen, Volkshochschulen und Weiterbildungseinrichtungen sein. Wir müssen Datenschutz-Aufsichtsbehörden und den Verbraucherschutz mit kompetentem Personal dazu befähigen, die Menschen vor dem Missbrauch ihrer Daten, der Verletzung ihrer Privatsphäre und vor Cyber-Kriminalität zu beschützen. Wir brauchen öffentliche Gesprächsräume in der digitalen Welt. Die Aufrüstung der Sicherheitsbehörden und Dienste mit Cyberwaffen und immer weiter reichenden Befugnissen, die Privatsphäre und Freiheitsrechte einschränken, müssen wir kategorisch zurückweisen. Die Nutzung von Daten und Algorithmen muss transparenter werden und gesellschaftlich vereinbarten Zielen und Regeln folgen. Keinesfall dürfen Algorithmen das Patriachat verfestigen. Der Staat muss in seiner eigenen Infrastruktur von digitalen Monopolisten unabhängig werden und seine IT-Sicherheit und die der für das öffentliche Leben kritischen Infrastruktur stärken.

3. Eine Europa-Politik, die Mut hat die Gesellschaft von morgen zu bauen und Zusammenhalt sowie Mitsprache zu sichern, die internationalistisch und friedensstiftend ist.

Das heißt: Die SPD muss ihr Versprechen für die Vereinigten Staaten von Europa einzutreten erneuern und sie muss Wege finden und diese anschließend gemeinsam mit ihren europäischen Schwesterparteien beschreiten, die uns langfristig zu diesem Ziel führen können. Wir müssen ein Gegengewicht sein – sowohl zu Trump in den USA als auch zu Putin in Russland und Xi in China. Und das können wir nur gemeinsam. Wir müssen Menschenrechte verteidigen und Waffenexporte zurückfahren. Das Versprechen: Keine Waffen in Kriegsgebiete zu exportieren muss uneingeschränkt gelten. Abhänigkeiten dürfen wir nur gegenüber denen zulassen, welche die Menschenrechte akzeptieren, Freiheit und Demokratie leben. Sprechen müssen wir als Kraft der Völkerverständigung und im Geiste Willy Brandts aber mit allen. Internationale Kultur- und Bildungspolitik muss in der Entwicklungszusammenarbeit die Freihandelspolitik, welche nur wirtschaftliche Abhänigkeiten schafft, ablösen. In der Handelspolitik müssen wir den Verbraucher*innenschutz an die erste Stelle heben. Und wir müssen die entschiedeneste Gegnerin aller Formen von Antisemitismus und Antizionismus sein und Rassismus in jeder Form eine schallende Absage erteilen.

4. Und vor allem eine kompromisslose Solidarität mit Menschen, die benachteiligt, in Not oder arm sind und die Bekämpfung wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit durch Umverteilung, Bildung und Emanzipation.

Das heißt: Die SPD muss ihre Sprachlosigkeit gegenüber einem bedingungslosen Grundeinkommen überdenken, ohne den Anspruch aufzugeben, allen Menschen ein Recht auf Arbeit und Teilhabe zuzugestehen. Arbeit muss der Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe bleiben! Doch dafür brauchen wir stärkere Gewerkschaften, die gleiche Bezahlung von gleichwertigen Tätigkeiten und die Erneuerung des Versprechens von sicheren Renten. Die Unterstützung von Menschen in Not darf nicht zur Gängelung und Drangsal für die Vielen werden, um den Missbrauch durch die Wenigen bekämpfen wollen. Wir müssen Reiche – Privatleute wie Unternehmen – zur Kasse bitten und Steuerbetrug entschieden bekämpfen. Hohe Einkommen und Vermögen müssen einen höheren Beitrag zur Finanzierung von Gemeinwesen und Sozialstaat leisten. Das gilt auch für eine Reform der Erbschaftssteuer. Vorstandsgehälter und Tantiemen für Aufsichtsräte dürfen nur noch bis zu einer Grenze des 250-fachen vom geringsten Vollzeit-Lohn des Unternehmens als Betriebskosten absetzbar sein. Der Mindestlohn muss massiv erhöht und danach an die Lohnentwicklung gekoppelt werden. Leiharbeit muss der festangestellten Arbeit nach 3 Monaten in Rechten und Bezahlung gleichgestellt werden. Die sachgrundlose Befristung und Projektförderung als Sachgrund müssen abgeschafft werden. Selbständige Erwerbsarbeit muss sozial und rechtlich besser abgesichert werden, der Staat muss die Interessenvertretung selbständig Erwerbstätiger fördern. Kinder brauchen die volle und bedingungslose Unterstützung des Staates, damit sie ihren Weg in ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben finden können. Außerdem verdienen sie die besten Bildungschancen in einer Gemeindschaftsschule für alle Kinder. Und bezahlbares Wohnen in den Städten muss wieder eine Aufgabe der Daseinsvorsorge werden, ebenso wie die Infrastruktur für ein lebenswertes Leben auf dem Land. Dabei dürfen wir nicht an Kapitalismuskritik sparen und müssen uns zu unserem Grundwert des demokratischen Sozialismus‘ bekennen.

 

Ich bin und bleibe optimistisch, dass dies gelingen kann. Die SPD ist in einer Krise, einige der handelnden Personen sind es, doch die sozialdemokratische Idee hingegen nicht. Der beschlossene Kohleausstieg, das Klimaschutzgesetz von Svenja Schulze sind erste Schritte, die die Partei auch gegenüber außerparlamentarischen Bewegungen mutig und vor allem inhaltlich vertreten können, die Forderung nach der Kindergrundsicherung – ergänzt um das Eintreten für eine Gemeindschaftsschule -, das vorgeschlagene Bürgergeld und die ebenfalls bereits ins Kabinett eingebrachte Grundrente bei einer gleichzeitigen Erhöhung des Mindestlohns sind weitere Aufschläge. Doch das Match gewinnt man nicht mit einem Aufschlag – sondern frühestens im dritten Satz.

Doch wir brauchen den Bremer-Mut zu rot-rot-grünen Bündnissen und das Versprechen, dass Bündnisse der beiden Volksparteien auf lange Zeit ausgeschlossen sind. Denn die letzten Wahlergebnisse zeigen klar, dass nicht nur die Parteivorsitzende der SPD, sondern vor allem auch die Regierung, der die SPD angehört, keinen spürbaren Rückhalt mehr genießen. Wer personelle Veränderungen gefordert hat, darf hierzu nicht schweigen. Und das sagen wir in dem Wissen, dass die SPD auch in der Großen Koalition viele weitere Verbesserungen wie das Gute-Kita-Gesetz oder die Musterfeststellungsklage auf den Weg gebracht hat und in großer Dankbarkeit für das Engagement der roten Mitglieder dieser Bundesregierung. Doch nur mit dem Mut, welcher den nun anstehenden strategischen Weichenstellungen zu grunde liegen muss, können wir verlorenes Vertrauen für unsere neuen Inhalte zurückgewinnen.

Unsere Erwartungshaltung ist deswegen klar: Ein vorgezogener SPD Bundesparteitag, bei dem alle, die glauben ein solches Angebot machen zu können, mutig und mit persönlichen Konzepten kandidieren und auf dem wir uns auch in der Koalitionsfrage nachhaltig positionieren. Bis zu einem solchen vorgezogenen Parteitag ist eine kommissarische Partei- und Fraktionsführung durch Malu Dreyer und Rolf Mützenich, die in ihrem politischen Leben oft gezeigt haben, dass sie Gräben überwinden und versöhnen können, der richtige Weg.

Die Wünsche, die Andrea Nahles uns in ihrem Brief mit auf dem Weg gibt, sollten uns im anstehenden Prozess Orientierung geben:

„Ich habe den Vorsitz von Partei und Fraktion in schwierigen Zeiten übernommen. Wir haben uns gemeinsam entschieden als Teil der Bundesregierung Verantwortung für unser Land zu tragen. Gleichzeitig arbeiten wir daran, die Partei wieder aufzurichten und die Bürgerinnen und Bürger mit neuen Inhalten zu überzeugen.

Beides zu schaffen ist eine große Herausforderung für uns alle. Um sie zu meistern ist volle gegenseitige Unterstützung gefragt.

Ob ich die nötige Unterstützung habe, wurde in den letzten Wochen wiederholt öffentlich in Zweifel gezogen. Deshalb wollte ich Klarheit. Diese Klarheit habe ich in dieser Woche bekommen.

Die Diskussion in der Fraktion und die vielen Rückmeldungen aus der Partei haben mir gezeigt, dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist.

Am kommenden Montag werde ich daher im Parteivorstand meinen Rücktritt als Vorsitzende der SPD und am kommenden Dienstag in der Fraktion meinen Rücktritt als Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion erklären. Damit möchte ich die Möglichkeit eröffnen, dass in beiden Funktionen in geordneter Weise die Nachfolge geregelt werden kann. Bleibt beieinander und handelt besonnen!

Ich hoffe sehr, dass es Euch gelingt, Vertrauen und gegenseitigen Respekt wieder zu stärken und so Personen zu finden, die ihr aus ganzer Kraft unterstützen könnt. Unser Land braucht eine starke SPD!

Meinen Nachfolgerinnen oder Nachfolgern wünsche ich viel Glück und Erfolg.“

Klar ist: All dies kann die SPD nicht alleine, sondern nur im engen Austausch mit den Menschen vor Ort, den Gewerkschaften, den ihr nahestehenden Vereinen und Verbänden schaffen. Wir als SPD in Wattenscheid-Mitte und Westenfeld haben deswegen nach der Europawahl über Wege beraten wieder sichtbarer und partizipativer zu werden. Unsere Einladung an all unsere Nachbar*innen und unser Versprechen an sie steht: Kommen Sie mit uns ins Gespräch und streiten Sie mit uns – Am liebsten für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität!