Ein echtes, geeintes Europa muss sich an den Menschen orientieren – nicht an den Märkten

In der letzten Woche hat Emmanuel Macron in 28 Tageszeitungen in den 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einen Gastbeitrag veröffentlicht. Darin mahnt der Präsident der französischen Republik vor einem Zerfall Europas, dem entschieden entgegen getreten werden müsse. Dafür erinnert Macron an die Gründungsphase der EU und die – auch aus meiner Sicht – überragende Rolle der europäischen Einigung bei der Herstellung und Bewahrung des Friedens: „Wir müssen zuallererst betonen, dass das vereinte Europa ein historischer Erfolg ist – die Versöhnung eines zerstörten Kontinents durch ein einzigartiges Projekt für Frieden, Wohlstand und Freiheit.“ Ein Erfolg, der an Aktualität nicht eingebüßt habe: „Welches Land kann sich allein der aggressiven Strategien der Großmächte erwehren? Wer kann allein seine Unabhängigkeit von den Internet-Giganten behaupten? Wie könnten wir ohne den Euro, der die gesamte EU stark macht, den Krisen des Finanzkapitalismus widerstehen?“ Dabei mahnt Macron auch zu bedenken, dass Europa bereits heute unser aller Leben vor Ort entscheidend prägt und berührt: „Europa, das sind auch tausende alltägliche Projekte, durch die sich das Bild unserer Landstriche geändert hat, ein renoviertes Gymnasium, eine neue Straße, ein schneller Zugang zum Internet, der endlich eingerichtet wird.“

Diese Sicherheit gelte es nun – auch da gebe ich Macron recht – durch neuerliche Einigungsprozesse zu verteidigen. Denn nur das entschiedene Handeln der EU-Mitgliedsstaaten und ihr Bekenntnis zu Europa können Nationalist*innen in ihrer Wirkmächtigkeit schädigen. Am aktuell dramatischsten Beispiel des Brexits verdeutlicht: „Der Brexit ist auch ein Symbol für die Falle, in der sich Europa befindet. Die Falle ist nicht die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, sondern die Lüge und die Verantwortungslosigkeit, die sie zerstören könnten. Wer hat den Briten die Wahrheit über ihre Zukunft nach dem Brexit gesagt? Wer hat ihnen gesagt, dass sie keinen Zugang mehr zum europäischen Markt haben werden? Wer hat die Gefahren für den Frieden in Irland durch die Rückkehr zu einstigen Grenzen angesprochen? Eine nationalistische Abschottung hat nichts anzubieten, sie bedeutet Ablehnung ohne jegliche Perspektive. Und diese Falle bedroht ganz Europa: Jene, die mittels falscher Behauptungen die Wut der Menschen ausnutzen, versprechen alles Mögliche und sein Gegenteil.“

Deswegen fordert Macron Reformen und Weiterentwicklungen für die Europäischen Union orientiert im Wesentlichen an drei Punkten: Freiheit, Schutz und Fortschritt.

Freiheit: „Ich schlage die Gründung einer europäischen Agentur für den Schutz der Demokratie vor, die in jeden Mitgliedstaat europäische Experten entsenden wird, um seine Wahlen vor Hackerangriffen und Manipulationen zu schützen. Im Sinne dieser Unabhängigkeit sollten wir auch die Finanzierung europäischer politischer Parteien durch fremde Mächte verbieten. Wir müssen durch EU-weite Regelungen Hass- und Gewaltkommentare aus dem Internet verbannen, denn die Achtung des Einzelnen ist die Grundlage unserer Kultur der Würde.“

Schutz: „Eine Grenze bedeutet Freiheit in Sicherheit. Deshalb müssen wir den Schengen-Raum neu überdenken: Alle, die ihm angehören wollen, müssen Bedingungen für Verantwortung (strenge Grenzkontrollen) und Solidarität (gemeinsame Asylpolitik mit einheitlichen Regeln für Anerkennung und Ablehnung) erfüllen. Eine gemeinsame Grenzpolizei und eine europäische Asylbehörde, strenge Kontrollbedingungen, eine europäische Solidarität, zu der jedes Land seinen Teil beiträgt, unter der Aufsicht eines Europäischen Rats für innere Sicherheit. (…)

Wir müssen unsere unentbehrlichen Verpflichtungen in einem Vertrag über Verteidigung und Sicherheit festlegen, im Einklang mit der NATO und unseren europäischen Verbündeten: Erhöhung der Militärausgaben, Anwendungsfähigkeit der Klausel über die gegenseitige Verteidigung,  Europäischer Sicherheitsrat unter Einbeziehung Großbritanniens zur Vorbereitung unserer gemeinsamen Entscheidungen. (…)

Wir müssen unsere Wettbewerbspolitik reformieren, unsere Handelspolitik neu ausrichten: in Europa Unternehmen bestrafen oder verbieten, die unsere strategischen Interessen und unsere wesentlichen Werte untergraben, wie Umweltstandards, Datenschutz und eine Entrichtung von Steuern in angemessener Höhe; und in strategischen Branchen und bei öffentlichen Aufträgen zu einer bevorzugten Behandlung europäischer Unternehmen stehen, wie es unsere Konkurrenten in den USA und in China tun.“

Fortschritt: „In Europa, wo die Sozialversicherung erfunden wurde, muss für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, von Ost nach West und von Nord nach Süd, eine soziale Grundsicherung eingeführt werden, die ihnen gleiche Bezahlung am gleichen Arbeitsplatz und einen an jedes Land angepassten und jedes Jahr gemeinsam neu verhandelten europaweiten Mindestlohn gewährleistet. (…)

Die Europäische Union muss ihr Ziel festlegen – Reduzierung der CO2-Emissionen auf Null bis 2050, 50 Prozent weniger Pestizide bis 2025 – und ihre Politik diesem Ziel unterordnen: eine Europäische Klimabank für die Finanzierung des ökologischen Wandels, eine europäische Kontrolleinrichtung für einen wirksameren Schutz unserer Lebensmittel; eine vor der Bedrohung durch Lobbyismus schützende und unabhängige wissenschaftliche Bewertung von Umwelt und Gesundheit gefährdenden Substanzen usw. (…)

Deshalb muss es nicht nur die Internet-Giganten durch die Schaffung einer europäischen Überwachung der großen Plattformen (schnellere Strafen bei Verstößen gegen Wettbewerbsregeln, Transparenz der Algorithmen usw.) regulieren, sondern auch die Innovation finanzieren, indem es den neuen Europäischen Innovationsrat mit einem Budget ausstattet, das mit dem in den USA vergleichbar ist, um sich an die Spitze der neuen technologischen Umwälzungen wie der Künstlichen Intelligenz zu stellen.“

Zur weiteren Beratung seiner Vorschläge und zur Umsetzung der Ergebnisse schlägt Emmanuel Macron eine Europakonferenz vor: „Deshalb sollten wir noch vor Ende dieses Jahres mit den Vertretern der EU-Institutionen und der Staaten eine Europakonferenz ins Leben rufen, um alle für unser politisches Projekt erforderlichen Änderungen vorzuschlagen, ohne Tabus, einschließlich einer Überarbeitung der Verträge. Zu dieser Konferenz sollten Bürgerpanels hinzugezogen und Akademiker, Sozialpartner und Vertreter der Religionen gehört werden.“

Dieser Gastbeitrag ist sehr differenziert zu betrachten und muss ebenso unterschiedlich bewertet werden. So ist es grundsätzlich gut, dass sich Frankreichs Staatsoberhaupt offensiv in die Debatte um die Zukunft der Europäischen Union einschaltet. Denn es gilt die Debatte um die Zukunft Europas von den Nationalist*innen und Spalter*innen zurückzugewinnen und sie zu einer progressiven und internationalistischen Diskussion weiterzuentwickeln. Macron hat Recht: Die Verantwortungslosigkeit und Ideenlosigkeit vieler derjenigen, die sich selbst im pro-europäischen Lager verordnen, ist die größte Gefahr für die europäische Einigung.

Allerdings zeigt sich an den konkreten inhaltlichen Vorstellungen Macrons wieder einmal, dass er kein Sozialdemokrat, sondern ein Neoliberaler ist. Zuforderst erkennt man dies auch an seinem Demokratieverständnis: Die Umgestaltung der Europäischen Union muss im Europäischen Parlament geplant und verabredet werden. Dazu ist die Stärkung des Parlaments, beispielsweise mit der Anerkennung eines Initativrechtes für dieses, unabdingbar. Die Europäische Kommission muss dem Europäischen Parlament rechenschaftspflichtig werden und der Europäische Rat im Gegenzug an Macht und Einfluss deutlich verlieren. Diese Strukturreform: Entscheidungen über Europa da treffen, wo die Europäer*innen versammelt sind, muss – mit der dazugehörigen Änderung der europäischen Verträge – die höchste Priorität genießen. Denn das grundlegende Ziel bleiben die Vereinigten Staaten von Europa.

Aber auch inhaltlich erhebe ich an einigen Stellen Widerspruch gegenüber den Vorschlägen Emmanuel Macrons: So ist eine Erhöhung des Militäretats, anders als von ihm dargestellt, kein Selbstzweck und aktuell in weiten Teilen der EU nicht erforderlich. Im Gegenteil: Statt weiterer Investitionen in Aufrüstungen bräuchten Länder wie Deutschland, Griechenland oder auch Frankreich Investitionen in soziale Gerechtigkeit. Auch die von Macron vorgeschlagene Einschränkung des Schengen-Raums, die de Facto zu einem Ausschluss gerade ärmerer Mitgliedsstaaten führen würde, würde so eben nicht zu einer Stärkung Europas, sondern zu einer Ausweitung der als Prestige-Projektes empfundenen EU führen. Abschließend gilt, dass dem Autoren vorzuwerfen ist, dass er sich – anders übrigens als das Europäische Parlament – nicht zur Seenotrettung als Grundlage einer humanen Asylpolitik bekennt. Für mich ist klar: Wenn wir über europäische Flucht- und Asylpolitik sprechen, müssen wir zuerst die Sicherheit der Menschen die fliehen müssen (wieder)herstellen.

An anderen Stellen macht Macron hingegen gute Vorschläge zur Einführung europäischer Mindestlöhne, des Grundsatzes gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort und der Stärkung europäischer Konzerne im internationalen Wettbewerb. Dabei vor allem auf die Einforderung der Einhaltung unserer Standards beispielsweise zu Daten- oder Umweltschutz zu setzen, ist der richtige Weg. Ergänzen würde ich allerdings, dass auch Arbeitnehmer*innenschutzstandards auf europäischen Nievau von allen in Europa Handel treibenden Konzernen eingehalten werden müssten. Außerdem würde ich den Macron-Vorschlag um ein Eurozonen-Budget für Investitionen gegen Jugendarbeitslosigkeit und Altersarmut sowie Strukturförderungen für benachteiligte Regionen ergänzen und eine Energie-Union zur Einhaltung unserer Klimaschutzziele fordern. Außerdem fehlen im Macrons Brief der Ruf nach einer Finanztransaktionssteuer und einer verplichtenden Mindestbesteuerung von Unternehmen. Die Vorschläge des Präsidenten der französischen Republik zur Verteidigung und Stärkung unserer Demokratie unterstütze ich dagegen uneingeschränkt.

Übrigens hat sich die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer mittlerweile auch zu den Vorschlägen Macrons geäußert und dabei unter anderem europäischen Mindestlöhnen und dem genannten Eurozonen-Budget eine Absage erteilt. Dies hatten CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag auf Bundesebene jedoch vereinbart. (Und es ist nicht der erste Wortbruch der Union in der Europapolitik.) Kramp-Karrenbauers weitere Forderung nach einer Bankenunion ist dabei gleich doppelt absurd: Zum einen, weil wir sie schon haben und zum anderen, weil sich die CDU-Vorsitzende statt zu gemeinsamen Werten (die sie in ihrem Text nicht erwähnt) nur zum Finanzmarktkapitalismus bekennt. Ihre Zustimmung zu erhöhten Militärausgaben überrascht dagegen nicht – auch wenn sie nach dem selben Muster bitter schmeckt, weil ja eine profiliertere Sozialpolitik (auch in Deutschland – Stichwort: Grundrente) von ihr abgelehnt wird. Damit zeigt sich allerdings, dass sich die Politiker*innen Europas, inhaltlich unterscheiden und alle Wahlberechtigten am 26. Mai auch wirklich die Wahl haben werden, ob sie für oder gegen Europa und wenn ja: für welches Europa ihre Stimme erheben wollen.

In Deutschland verdeutlicht sich diese Wahl zum Beispiel im Duell der SpitzenkandidatInnen Katarina Barley, einer überzeugten Sozialdemokratin und geborenen Europäerin und dem Konservativen Manfred Weber, der eine „Endlösung“ der Flüchtlingsfrage forderte und sich mit Victor Orban fotografieren ließ. Ich werde mit Katarina Barley für europäische Mindestlöhne, Steuergerechtigkeit und eine menschenwürdige Asylpolitik kämpfen. Denn die Zukunft Europas entscheidet sich am Angebot der überzeugten Pro-Europäer*innen und Europa muss sich an den Menschen orientieren – Und nicht an den Märkten.