Es ist an der Zeit, an Weihnachten einmal eine Geschichte zu erzählen, die politische Zuversicht verbreitet. Auch wenn sie keine Weihnachtsgeschichte, sondern die Gesichte einer Regierung ist. Denn in nur noch zwei europäischen Ländern führen Sozialdemokrat*innen ihre Regierungen an. Und das ausgerechnet Portugal eines davon ist, grenzt – und das ist keine Übertreibung sondern der tagesaktuelle Bezug – an ein Wunder. Aber immer der Reihe nach:
Portugal war von der zurückliegenden Schuldenkrise ebenso betroffen wie Griechenland, Spanien und Irland, Italien oder Zypern. Die damals tätige sozialdemokratische Regierung um Regierungschef José Socrates stimmte 2011 folglich den von der EU geforderten Sparmaßnahmen zu und wurden mit einen 78 Millarden Euro Kreditk vom IWF vor der Staatspleite gerettet. Danach trat Socrates ab, später wurde er wegen Korruption angeklagt. Das riss die portugisische Schwesterpartei der SPD in den Abgrund. Die Zustimmung zu Austeritätsprogrammen war sozusagen das Hartz IV der südeuropäischen Sozialdemokratie – in Portugal wie in Spanien, Griechenland, Zypern und Italien.
Es folgte die Austeritätspolitik, die die Namen Merkels und Schäbles trägt
Bei der Parlamentswahl 2011 feierten in Portugal die Konservativen dann einen Erdrutschsieg: Premierminister wurde Passos Coelho, seine Partei errang sogar die absolute Mehrheit. Und der Premierminister erklärte kurzerhand, er spare nicht, weil er müsse, sondern „aus Überzeugung“. Und so begann der Ausverkauf Portugals im großen Stil: „Bis 2016 hat die konservative Regierung wie wild privatisiert“, schreibt Miguel Syzmanski. „Der Staat verkaufte strategische Unternehmen und Beteiligungen im Eiltempo. Ausländische Investoren aus China und Angola kauften zu Ramschpreisen ein.“ Den größten Anteil am Energieversorger EDP kaufte die China Three Gorges Corporation – übrigens und ironischerweise obwohl sich die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in Lissabon ganz patriotisch dafür starkgemacht hatte, Eon den Zuschlag zu geben.
Es gab außerdem Kürzungen im Gesundheitsbereich, Krankenhäuser mussten schließen oder ihr Leistungsspektrum reduzieren, wichtige Investitionen in Infrastruktur oder öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten oder Behörden wurden aufgeschoben, Renten und Löhne gesenkt – Während die Mieten explodierten. Die Einsparungen bei den Gehältern lähmten die Haushalte, die Wirtschaft sprang nicht an, Depression machte sich breit. Es gab Massendemonstrationen: 2012 gingen sogar Unternehmer*innen auf die Straße, um gegen Einschnitte zu protestieren, die dazu führten, dass der Konsum praktisch zum Erliegen kam. Hundertausende wanderten überdies aus. Und währenddessen schwoll der Schuldenberg Portugals auf einen höheren Stand an und die Wirtschaftskraft erlosch zusehens noch intensiver als zuvor – Bei einer gleichzeitigen dramatischen Senkung des Lebensstandards für die meisten Menschen in Portugal.
Gesucht und gefunden: Eine Alternative zur Alternativlosigkeit
Zwar wurde die konservative PSD von Pedro Passos Coelho bei der Wahl 2015 mit 36 Prozent wieder stärkste Partei, sie büßte jedoch elf Prozentpunkte ein. Zum weiterregieren hätte sie nun eine Koaltion schmieden müssen. Doch die Sozialdemokrat*innen unter dem heutigen Premierminister Antonio Costa weigerten sich, es ihren europäischen Schwesterparteien gleichzutun und eine Große Koalition einzugehen. Warum? „Große Koalitionen spielen den Populisten in die Hände“, sagt António Costa. Obwohl seine Partei nur gut ein Drittel der Abgeordneten stellt, bildete er eine Regierung, die sich von einem bürgerlich-intellektuellen Linksbündnis und Kommunist*innen tolerieren lässt. Antonio Costa traute sich also das, was sich die SPD, die Grünen und die Linke 2013 nicht trauten, als es immerhin die rechnerische Möglichkeit für eine rot-rot-grüne Koalition im Bundestag gab.
Und anders als sein Vorgänger Coelho trat Antonio Costa sein Amt mit einer Kampfansage an: „Wir wollen eine Alternative zur Alternativlosigkeit finden.“ Und das gelang: Entgegen dem Trend gelingt es dem Regierungschef mit nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik, die Konsument*innen zu stärken und versucht nicht seine Politik allein an den unmittelbaren Bedürfnissen der Produzent*innen auszurichten, wie es seit Margaret Thatcher und Ronald Reagan weltweit wirtschaftliches Dogma war. Gehalts- und Pensionskürzungen wurden wieder zurückgenommen, der Mindestlohn um 25% angehoben, gestrichene Feiertage wieder eingeführt. Sondersteuern für Verbraucher*innen und Steuervorteile für Unternehmen gekippt, die Erbschafts- und die Vermögenssteuer wurden angehoben und die Immobilensteuer zu Gunsten einfacher Hausbesitzer*innen reformiert. Und trotz dieses Anspruchs, die Avantgarde der Anti-Austeritäts-Politik zu sein, sei Portugal ein „bond-market-darling“, schreibt selbst der Economist anerkennend. Die Arbeitslosigkeit ist bei 6,7% rückläufig, das Haushaltsdefizit auf 2% gesunken. Das Wirtschaftswachstum zieht wieder an, die vielen Menschen in Portugal schöpfen neue Zuversicht.
All I want for Sozis: Costa als Vorbild
Der Sexappeal der Regierung Costa rührt nicht zuletzt daher, dass der Premier sich etwas traut: „Er hat politischen Mut und eine strategische Perspektive, die es ihm ermöglicht, Mut zu haben“, sagt Reinhard Naumann, der seit 1991 in Portugal lebt und das Lissabonner Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung leitet. Mut, den wir im politischen Berlin viel zu selten erleben. Seit 2005 stüzt Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Regierung fast durchgänig auf die SPD, seit 1998 konzentrierten sich die großen Reformvorhaben der Sozialdemokratie mehr aufs Fordern und Fördern als auf die progressive Gestaltung politischer Zukunftsfragen und Umverteilung von Einfluss und Einkommen zugunsten von Arbeitnehmer*innen.
Dabei erleben wir aktuell eine Sehnsucht nach einer starken und vor allem mutigen SPD. Und einen zunehmenden politischen Bedarf: Fragen der Globalisierung, des Umweltschutzes und Digitalisierung dürfen weder dem Markt allein noch neoliberalen oder konservativen Politiker*innen überlassen werden. Der Kohleausstieg kann schließlich zum Beispiel nur gelingen, wenn er umfassend und sozialverträglich gestaltet wird, neue Teilhabeperspektiven beispielsweise im Form der Sanktionsfreien Grundsicherung, eines ausgebauten sozialen Arbeitsmarktes, des solidarischen Grundeinkommens geschaffen werden und – auch mit Blick auf den technischen Fortschritt und die damit einhergehende Automatisierung der Produktion – die vollständige Aufwertung zur Anerkennung der Care-Arbeit gelingt, wir an der Seite der Gewerkschaften über Arbeitszeitreduzierungen bei vollem Lohnausgleich reden und wir bildungspolitisch den Mut fassen, in einer Schule für alle Kinder kein Kind mehr zurückzulassen und die gesellschaftliche Durchlässigkeit zu erhöhen. Die Dieselkrise lösen wir nur, wenn wir die Unternehmen, die ihre Kund*innen betrogen haben, zu Hardwarenachrüstungen zwingen und Investitionen nur in emissionsfreie Technologien fördern und den öffentlichen Personennah- und Fernverkehr statt umweltschädlichen Flugreisen und Idividualverkehr stärkt. Und auch Europa braucht eine mutige Sozialdemokratie, die den spaltenden rechten und protektionistischen Populist*innen die Perspektive einer Einigung in Freiheit, Demokratie und Solidarität entgegenstellt, die auf die neoliberale Bankenrettung mit der europäischen Arbeitlosigkeitsversicherung antwortet und für eine Entwicklungszusammenarbeit eintritt, die sich an diesen Werten statt am Profit großer Konzerne orientiert.
Weitere Schwerpunkte eines deutschen Linksbündnisses könnten eine Bodenreform zu mehr öffentlichen Wohnungsbau, der Stärkung von Erbpachten und regionalen Wohnungsgenossenschaften als Antwort auf Mietwucher und eine liberale Gesellschaftspolitik sein. Gerade bei zweiterem hat die Große Koalition schließlich zuletzt aufgezeigt, dass sie nicht gemeinsam zu Fortschritten fähig ist – Stichwort: 219a. Außerdem brauchen wir eine Rentenreform nach österreichischen Vorbild und eine gerechte Steuerpolitik: Also höhere Steuerfreibeträge, weitere Entlastungen für Gering- und Mittelverdiener*innen, dafür eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, eine Reichensteuer, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, eine Reform der Erbschaftssteuer, die kleinere Erben generell befreit, größe dafür vernünftig beteiligt und vor allem eine globale oder zumindest europäisch einheitliche Besteuerung für Unternehmen.
Zwei Alternativen zum Weihnachtslied: Sondieren und die Internationale singen
Die SPD tut darum gut daran, einen Plan zu schmieden, wie sie aus der Großen Koalition mittelfristig herauskommt. Sie muss dafür nicht den Koalitionsvertrag brechen – Es reicht, wenn sie gemeinsam mit die Linke und den Grünen glaubhaft deutlich macht, wie eine Regierungsmehrheit links der Mitte auf der Höhe der Zeit mit mutiger Politik viel zum Guten verändern könnte. Und wie der Weg dorthin – bis spätestens mit dem Ende der aktuellen Legislaturperiode – aussieht. Aber sicher: Leicht wird das nicht. Aber auch die Demoskop*innen und Politikexpert*innen in Portugal haben der Regierung Costa nicht mehr als ein halbes Jahr vorausgesagt und im nächsten Jahr stellt sie sich nach einer erfolgreichen ersten Legislatur zur Wiederwahl.
Morgen früh um 0 Uhr endet in vielen Haushalten die Zeit der Weihnachtslieder erst einmal. Ein guter Zeitpunkt für die Sozialdemokrat*innen mit dem Blick zu den portugisischen Genoss*innen wieder etwas lauter zur Internationalen zurückzukehren. Und sich in diesem Geiste mit den genannten Vorbildern und Sondierungen vor Ort zu beschäftigen.